Das Leipziger GEGENkino-Festival ...
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... wagt wieder große Konfrontationen: mit dem Anderen, Tierischen, vermeintlich niedersten Instinkten und den Grenzen des Zeigbaren.

Von Janick Nolting

 

Der Orgasmus war kompli­ziert. Zwei Männer verkeilt und verban­delt mit Matratze und Prothese. Die Beine des einen ergänzen den Torso des anderen, Schläuche rings­herum. Alles nur, damit der falsche Penis in Nekro­mantik erst Sperma und dann Blut ejaku­lieren konnte, was Jörg Butt­ge­reit anhand eines skurrilen Schau­bildes zu erklären weiß. Butt­ge­reit ist eine Kino-Koryphäe, dessen Geschichten auch heute noch für Amüsement und Bewun­de­rung sorgen. Vor kurzem hat der Filme­ma­cher seine Auto­bio­gra­phie Nicht jugend­frei! veröf­fent­licht, die er nun in Leipzig vorstellte. Butt­ge­reit erzählt Geschichten von kind­li­cher Mons­ter­film-Liebe und Zensur­kämpfen, von rebel­li­schem Punk-Geist, Tabu­brüchen und naivem Selfmade-Kino. Sein Schaffen reicht von Expe­ri­menten wie Blutige Exzesse im Führer­bunker über die Fami­li­en­studie Mein Papi bis zu dem Maden­ge­wimmel verwe­sender Schwein­chen und dem Leichensex von Nekro­mantik. All diese Werke hatte der Filme­ma­cher mit zum Leipziger GEGENkino gebracht.

Butt­ge­reit ist schon insofern ein bestens geeig­neter Gast für dieses Festival, da das GEGENkino uner­schro­cken an die Substanzen geht. Es lotet Eigensinn zwischen Analogem und Digitalem aus, Span­nendes zwischen Anpassung und Aufbe­gehren, das abseits großer Förder­töpfe und behörd­li­cher Mühlen statt­findet. Etwas, das Jahr­zehnte später noch dazu verführt, die Grenzen zwischen Trash und Hoch­kultur abzu­ste­cken, kultu­relle Narrative und Denk­muster zu befragen und zu durch­kreuzen, das vermeint­lich Anstößige, A-Soziale, Unnormale in steter Aushand­lung zu begreifen. Kurz: Kino, das Konflikte wagt. In Butt­ge­reits Nekro­mantik vermengen sich das Schlachten eines Hasen und höchste Ekstase in kolla­bie­render Zeit­lich­keit. Sex und Tod, Mensch und Tier im Gleich­klang, bis das Abstoßende eine neue Norma­lität wird und die Sicht der Dinge verkehrt.

Eines der aufre­gendsten Festivals des Jahres

Seit 2014 stehen solche Konfron­ta­tionen im Rampen­licht des Leipziger GEGENkinos. Das Festival hat sich, wie man online nachlesen kann, zur Aufgabe gemacht, »Film auf seine ästhe­ti­schen Ausdrucks­mög­lich­keiten zu befragen, über­se­hene Schätze des Weltkinos nach Leipzig zu bringen, wider­s­tän­digen Posi­tionen und margi­na­li­sierten Narra­tiven oder Projekten Raum auf der Leinwand zu bieten.« Ziel sei es, fest­ge­fah­rene Sehge­wohn­heiten mit unge­wöhn­li­chen Wahr­neh­mungen heraus­zu­for­dern. Und es wird diesem Maßstab erneut gerecht! Gezeigt werden zwischen dem 7. und 17. September 2023 außer­ge­wöhn­liche Filme aus verschie­denen Teilen der Welt, verschie­denster Formen und Mate­ria­li­täten und aus über einem Jahr­hun­dert.

Das aktuelle GEGENkino gehört zu den aufre­gendsten deutschen Film­fes­ti­vals, die man in diesem Jahr besuchen kann. Nicht allein, weil es bei seinen an die 30 Programm­punkten ein ausge­zeich­netes kura­to­ri­sches Händchen bewiesen hat. Es erinnert in seiner Konzen­tra­tion und Schärfung an ganz Grund­sätz­li­ches. Nämlich, dass Gegen­warts­kino nur dann leben kann, wenn es mit dem vergan­genen in Dialog tritt, und dass eine solche Veran­stal­tung nur dann glückt, wenn sie ein Bewusst­sein für Räume und Diskurse entwi­ckelt, sich zu verorten weiß und das Kino nicht allein als beliebige Abspiel­sta­tion begreift.

Das UT Connewitz ist dies­be­züg­lich etwa ein vers­tö­render und faszi­nie­render Ort. Betritt man das UT und damit eines der ältesten deutschen Kinos, kann man dem Kino beim Sterben zusehen. Es gleicht einer symbol­träch­tigen Ruine. Ein Raum vergan­gener Zeiten. An der Rahmung der Leinwand hat sich die Zeit abge­la­gert. Faszi­nie­rend aber, weil dieser verfal­lende Raum ein untotes Dasein fristet, weil er mit der passenden Insze­nie­rung noch immer höchst atmo­sphärisch bespielt wird und bespielt werden kann. Weil er gerade in seinem anmutigen Zerfall und Ausharren zwischen dem Gestern und Heute ein perfektes Ambiente bietet, um mit der Kino­er­fah­rung aus dem Alltag und der Zeit auszu­scheren.

An diesem und drei weiteren Leipziger Orten, der Schau­bühne Linden­fels, dem Grassi Museum und dem Luru Kino, lädt das Festival also zur Reise in Grenz­be­reiche und an abseitige Schau­plätze ein. Dry Ground Burning von Joana Pimenta und Adirley Queirós etwa führt an die Ränder von Brasilia, wo ein paar Frauen, die »gaso­lin­heiras«, illegale Ölge­schäfte abwickeln. Ein höchst immersives Werk ist das, entstanden aus dem Sensory Ethno­graphy Lab der Harvard Univer­sity, das Ethno­gra­phie und Ästhetik vereinen will und schon früher beim GEGENkino vertreten war. Dry Ground Burning ist ein Kino des brodelnden Zustands, kein drama­ti­sches, ein beob­ach­tendes, aushal­tendes und eintau­chendes, das Figuren im Gewitter platziert, die Stimmung von Wahl­kämpfen einfängt, fana­ti­sche Ordnungs­hüter, das Quiet­schen und Rattern rostiger Maschinen.

Filme aus dem Kosovo: Kino Armata

Daneben geht es von Leipzig in den Kosovo: Aus einer Koope­ra­tion mit dem Kultur­zen­trum Armata in Pristina sind ein Kurz­film­pro­gramm sowie eine Vorfüh­rung des Doku­men­tar­films As I Was Looking Above, I Could See Myself Under­neath entstanden. Der Blick auf dieses koso­va­ri­sche Kino entpuppt sich natürlich als einer auf die Fremde, auf die Nachwehen histo­ri­scher Verwer­fungen, jüngere Nach­kriegs­rea­li­täten. Es ist zugleich ein allzu vertrauter, univer­seller Blick, wie dort zwischen Tradition, Konser­va­tismus und Eman­zi­pa­tion gekämpft wird. Zum Beispiel in dem starken Kurzfilm Fence, der in einer 15-minütigen Plan­se­quenz von einer abend­li­chen Eska­la­tion erzählt. Die Frauen tauschen im Haus patri­ar­chale Gewalt­er­fah­rungen aus und gehen sich gegen­seitig an den Kragen. Übles wird gespro­chen, während es den Jüngsten nach draußen, weg aus dieser Welt zieht – hin zu seinem neuen Spiel­ka­me­raden und dessen Hund.

Natürlich stoßen auch die queeren Biogra­phien aus As I Was Looking Above auf eine große Resonanz jenseits ihrer spezi­fi­schen Verortung. Ausge­grenzte berichten davon, wie sie ihre Identität in einem Umfeld verbergen und recht­fer­tigen müssen, das sie als nicht normal oder gar gefähr­lich stig­ma­ti­siert. Ilir Hasanaj hat damit einen kunstvoll zwischen Persön­lich­keiten und ihren Umge­bungen umher­rei­senden Film gedreht. Einen, der in Fragmente zerfallen muss, um zu einem Ausdruck von Indi­vi­dua­lität und Diver­sität gelangen zu können.

Um besagtes Umher­reisen geht es bei diesem neunten GEGENkino übrigens ganz wort­wört­lich: Aus Wien ist das Milieu-Kino als mobile Spielstätte gekommen, um an drei Tagen an verschie­denen Orten in Leipzig zu rasten und das Kino zu den Menschen zu tragen. Gezeigt wurden in dem charmant zweck­ent­frem­deten LKW mit 15 Sitzen unter anderem Jahr­markts-Kurzfilme aus der Zeit um 1900: eine Suche nach filmi­schen Wurzeln. Man besinnt sich zurück auf die Miniatur, das Unge­schlif­fene, pure Sensation, die mit Neugier und Verblüf­fung auf die Welt blickt, die auch einmal etwas Kurioses versucht, das zunächst keinem Zweck und Kalkül zu dienen hat. Und wenn das bedeutet, in einem aus heutiger Sicht verach­tens­werten Clip kleinen Hunden bei der Ratten­jagd zuzusehen!

Animal Realities – Auf Tuch­füh­lung mit dem Tieri­schen

Die Gewalt der Tiere, die Gewalt gegenüber Tieren, das ist ohnehin bestim­mendes Thema dieser Festival-Ausgabe. »Animal Realities« hat das GEGENkino seinen Schwer­punkt genannt, welcher Tier­do­ku­men­tar­filmen seit den 1940ern beleuchtet. Mit dabei: Arbeiten von Frederick Wiseman, Jan Soldat, dem Duo NEOZOON oder auch Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel. »Animal Realities« ist kein Programm geworden, das sich etwa in ausge­stelltem Ökobe­wusst­sein oder gesuchter Natur­ver­bun­den­heit genügen würde. Es begreift das Tierische als Denkfigur und viel­schich­tiges Konzept und rüttelt damit an elemen­taren kultu­rellen Konstruk­tionen unseres täglichen Denkens und Handelns.

Tiere sind das Andere schlechthin. Aber warum eigent­lich? »Wie die Tiere«, sagt man als Belei­di­gung und Degra­die­rung, als sei es das Schlimmst­mög­liche. Unzi­vi­li­siertes, das es zu zähmen gilt. Das GEGENkino lädt dazu ein, diese ideo­lo­gi­sche Sicht zu reflek­tieren, umzu­stürzen, an Trenn­li­nien zwischen Lebewesen entlang­zu­wan­deln, sie neu zu ziehen. Es steht nämlich auch für die Möglich­keit einer neuen Begegnung und Ko-Existenz, eines Perspek­tiv­wech­sels. Das steht für etwas, dem man Herz und Verstand schenkt, das man sich gegen­seitig näher­bringt. Aber wann wird die Liebe zum Tier zur Unter­wer­fung, wann wird die Insze­nie­rung zum Ausschlachten?

Man kann diesen Denk­pro­zess in Spektakel verwan­deln, wie es Castaing-Taylor und Paravel in Leviathan von 2012 unter­nehmen. Der Alltag auf einem Fischfang-Kutter wird darin zum Spiel mit schier über­sinn­lich anmu­tenden Blick­win­keln, einem Wühlen in Schmutz, das sein Publikum in abstrakten Bildern durch Salz­wasser und Abfälle schleift. Eine audio­vi­su­elle Natur­ge­walt. Man kann aber auch einen Schritt zurück­treten und Menschen beob­achten, wie sie ange­strengt versuchen, den Rätseln der Natur auf die Schliche zu kommen und sich dabei immer weiter von ihr entfernen. So zu erleben in Frederick Wisemans brutalem Meis­ter­werk Primate, das den Alltag in einer Primaten-Forschungs­ein­rich­tung der 70er-Jahre porträ­tiert. Mit kaum erträg­li­cher Drastik wird dort irgend­wann ein kleiner Affe zerschnitten, bis seine kleinsten Teile studierbar, sezierbar werden. Man quält und zerstört, um das eigene humane Dasein in der Welt besser begreifen zu können. Dort, wo der Mensch glaubt, zum Innersten vorge­drungen zu sein, findet man nur noch totes Material. Also muss er weiter­for­schen.

Gewalt erzählen, Gewalt insze­nieren

Letztlich muss sich das Kino in all der mensch­li­chen Zurich­tung und Zuschrei­bung an die eigene Nase fassen und über die Moral seiner Bilder nach­denken. Wiseman provo­ziert eine solche Ausein­an­der­set­zung mit der klini­schen Objek­ti­vität seiner Aufnahmen. Nur: Wie lässt sich der wissen­schaft­liche, objek­ti­fi­zie­rende Blick unter­wan­dern? An dem Punkt also, der an der Würde der Zuge­rich­teten tastet. Nicht nur der Würde der Tiere! Vor dieser Frage der Bild­kon­struk­tion und -repro­duk­tion trifft sich das gesamte Programm des Festivals, trifft sich Kino per se.

Die Darstell­bar­keit von Gewalt – immer schon etwas Tieri­sches, Viehi­sches, Abge­stoßenes und dennoch Vertrautes in unserer konven­tio­nellen Vorstel­lung – verbindet die »Animal Realities« mit anderen Inhalten des GEGENkinos. Mit De Facto von Selma Doborac zeigt dieses anregend zusam­men­ge­setzte Festival eines der großen Expe­ri­mente des Jahres: Zwei Männer tragen in einem Natur­idyll abscheu­liche Gewalt­fan­ta­sien vor. Doborac unter­sucht dabei mit kühler Präzision, inwiefern das gespro­chene Wort perfor­mativ wird, wann es die Kontrolle über die Spie­lenden übernimmt, wann es Darstel­lung und die Reprä­sen­ta­tion zur Verkör­pe­rung wird. In der öster­rei­chi­schen Stummfilm-Hommage Orgy of the Damned von Norbert Pfaf­fen­bichler ist derweil die Endzeit ange­bro­chen. Sie verwan­delt die Welt in ein groteskes, chao­ti­sches Masken­theater, das Körper­teile in perver­tierten Puppen­spielen neu zusam­men­setzt – irgendwo zwischen Phil Tippetts Dystopie Mad God und den Foto­gra­fien von Joel-Peter Witkin.

Weitere Titel über­führen solche abstra­hierten Gewalt­stu­dien in ganz konkrete narrative Stoffe und histo­ri­sche Konstel­la­tionen, darunter Lav Diaz mit seinem sieben­stün­digen Kino-Roman A Tale of Filipino Violence. Und final führen zwei der heraus­ra­gendsten GEGENkino-Filme in das Abseits der Darstel­lung überhaupt. In die kris­se­ligen und flackernden Poren der medialen Struk­turen: In dem mit einer Kinoorgel live vertonten Klassiker Begotten, aber auch in dem schau­rigen Skina­ma­rink, zu dem bei Artechock kürzlich bereits ein längerer Text erschien. Das sind Werke, die jenes Fremde und Andere – will man es tierisch nennen oder nicht – direkt im mensch­li­chen Hirn und Auge und in dessen Verlän­ge­rung, dem Apparat, verorten.

Sie begreifen Kino als Raum, Ereignis und Prozess, sich dieser inneren Fremde zu stellen. Das heißt, Kontrolle und Orien­tie­rung zu verlieren, das Auge neu zu gewöhnen, es für das Unde­fi­nier­bare, Ängs­ti­gende öffnen, das sich viel­leicht nur sche­men­haft in den filmi­schen Texturen zu erkennen gibt. Auch wenn es sich einnistet, man es mit nach Hause trägt – in die vertrauten Räume und Umge­bungen, die man plötzlich nicht wieder­zu­er­kennen glaubt.

 

artechock 14.09.2023 festival

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