Krieg und Kino
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Am Dienstag eröffnete das Filmfestival in Cannes mit einem Überraschungsgast. Per Video rief der ukrainische Präsident das Kino zur Verantwortung auf: „Hunderte Menschen sterben heute. Wird das Kino dazu schweigen?“
Cannes habe gut daran getan, Wolodymyr Selenskyj zur Eröffnung das Wort zu geben, findet Andreas Busche im „Tagesspiegel“, denn „es gibt für den ehemaligen Schauspieler und Komiker auch kaum eine bessere Plattform, vor Kolleginnen und Kollegen, um an die Verantwortung der Weltöffentlichkeit zu appellieren. Stachel im Fleisch zu sein. Selenskyj spricht am Dienstag lange, fast zehn Minuten, und man muss es den Organisatoren lassen, dass sein Überraschungsauftritt dramaturgisch gut platziert ist. Auf den großen Festivals laufen seit Jahren Filme, die die Situation in der Ukraine nach der Krim-Annexion und dem Krieg im Osten immer wieder in Erinnerung gerufen haben. Aber wie mächtig ist das Kino heute tatsächlich noch? Selenskyj erinnert an Chaplins ,Der große Diktator’: ein damals prophetischer Film, rückblickend geradezu naiv. Wo sind die Chaplins der Gegenwart, da die innere Stabilität Europas gerade wieder bedroht ist? Der Präsident dankt allen ukrainischen Filmschaffenden, vergisst dabei aber auch nicht die russischen Kolleg:innen, die seit Jahren staatlichen Repressalien ausgesetzt sind.“ 
In der „Frankfurter Rundschau“ bestaunt Daniel Kothenschulte die Inszenierung: „Für einen Augenblick schienen sich zwei Bilder übereinander zu legen, während der Gala-Eröffnung im Grand Théatre Lumière: Hier die inzwischen längst selbst ikonische Videoaufnahme des Mannes im kurzärmligen Militärhemd. Und da die Erinnerung an Chaplins jüdischen Friseur, der im Finale seines berühmtesten Tonfilms auf dem Platz des ,Großen Diktators’ den Frieden auf Erden predigt. Ist es banal angesichts Putins mörderischen Angriffskriegs in diesem Augenblick an die Unsterblichkeit eines Films zu denken? Ganz im Gegenteil. Chaplin wurde auch in der Sowjetunion verehrt, erst recht als ihn die USA als vermeintlichen Kommunisten verfolgten. Und nun wird einem einiges klar: Wie viel Kraft muss Selenskyj gerade aus diesem Film seines Idols gezogen haben und aus dessen Kampf gegen Goliath; schon als er noch selbst als Komiker die Missstände seines Landes ansprach, bevor man ihn zum Präsidenten wählte, um etwas dagegen zu tun. Und was hätte diese Nachwirkung seines Films Chaplin selbst bedeutet, der bis zu seinem Lebensende Zweifel hegte, ob das Lachen über Hitler moralisch richtig war. Die Forderung nach einem Kulturboykott russischer Künstler wiederholte Selenskyj an diesem Abend indes nicht mehr – weniger als 20 Stunden vor der Premiere des russischen Wettbewerbsbeitrags.“
Bei Tim Caspar Boehme in der „Taz“ hinterließ die Botschaft „bei aller Dringlichkeit einen zwiespältigen Eindruck: Zwar war es vom Festival richtig, mit Selenski ein Zeichen gegen den Krieg zu setzen. Dennoch wirkte er zwischen den Reden von Hollywoodstar Forest Whitaker, der eine Ehrenpalme erhält, und dem Einzug der Jury mit ihrem Präsidenten, dem französischen Schauspieler Vincent Lindon, fast wie ein weiterer Starauftritt. Die Grenze zwischen Ernst und Show verschwamm darüber.“
Die „rhetorische Cleverness, mit der sich Selenskyj auf jedes neue Publikum einzustellen vermag“ und „auch auf der Klaviatur der Cinephilen spielen kann“ bemerkt Andreas Kilb in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hinter der Bezahlschranke. Noch spannender aber findet er, dass Cannes als ersten Wettbewerbsbeitrag mit „Tschaikowskys Frau“ dann einen russischen Film gesetzt hat.  
Cannes gilt als Bastion der künstlerischen Freiheit. Doch beim Festival selbst hört die Freiheit auf, berichtet Andreas Wiseman im US-Branchenmagazin „Deadline“ [auf Englisch]: Das Festival habe als Bedingung für Interviews mit seinem Chef Thierry Frémaux nicht nur eine Freigabe gefordert („etwas, was kein anderes Festival oder keine andere Organisation von ,Deadline’ verlangt hat“), sondern auch „Inhalte einschließlich potenziell unbequemer Antworten entfernt“: „Nach einem absolut freundschaftlichen und interessanten protokollierten Interview wurde ich vom Presseteam verspätet auf die Pflicht zur Freigabe hingewiesen. Mir wurde gesagt, dass diese Bedingungen von der Handels- und französischen Presse, einschließlich Deadline, in der Vergangenheit eingehalten wurden. Ich bestritt die Praxis als unethisch, aber mir wurde gesagt, dass dies in erster Linie als Fakten- und Sprachprüfung durchgeführt wurde. Dies stellte sich als nicht wahr heraus. Unter den Abschnitten, die später von der Presseabteilung verwässert wurden, war eine Antwort auf eine Frage, ob das Festival den Filmemacher Roman Polanski wieder willkommen heißen würde. Frémaux nannte die Frage während unseres Gesprächs ,sehr interessant’ und gab eine gemessene, zum Nachdenken anregende, aber möglicherweise auch problematische Antwort […]. Wir haben uns entschieden, das Magazin-Interview nicht zu veröffentlichen, weil es verdorben war. Uns ist bekannt, das eine andere Publikation, die ein Interview auf Französisch geführt hatte, ganze Fragen und Antworten zum Mangel an Schwarzen Regisseuren im Programm aus ihrem Artikel entfernt hatte. Die Antworten hätten Frémaux oder Cannes nicht gut aussehen lassen. Die ganze Episode wirft ethische Fragen zu Zensur, freier Presse und Kienteljournalismus auf.“ 
 
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