„Was hat dieses Bayern eigentlich für ein Gewicht?“
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Schöne Aussichten: Eine Welt ohne Menschen, eine Buchmesse ohne Rechte, Springer ohne Döpfner und eine Union ohne Söder. Und wieviel wiegt eigentlich Bayern? Gedanken in der Pandemie, Folge 134.

„Ihr sorgt euch um die Natur? Baut weniger Straßen. Ihr sorgt euch um bedrohte Arten? Fahrt weniger Auto.“
Fraser Shilling, Biologe

„Was ich nach meinen ersten Besuchen im Iran zu schätzen gelernt habe, war die bedingungslose Herzenswärme. Die Leute sind vorsichtig, wenn sie die Regierung kritisieren. Zugleich ist für sie klar: Man darf einer Regierung nicht blind vertrauen.“
Sanam Afrashteh, deutsche Schauspielerin mit iranischen Eltern

 

Nein! Heute nichts zu Julian Reichelt. Nein!! Vielleicht am Montag.

 

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Es war ein wunderbares Experiment, das der Weltgeist und allen und besonders den Forschern im vorigen Frühjahr geschenkt hat: Als plötzlich Milliarden von Menschen im Lockdown verharrten, war das nicht nur Ursache von viel Leid und immensen ökonomischen Velusten, es war auch eine einmalige Chance für die Wissenschaft. Endlich konnte man feststellen, wie das Klima auf die Lahmlegung des Verkehrs reagieren würde, aber auch, welche Folgen der Stillstand der Zivilisation für die Tierwelt haben würde. Die Wissenschaft konnte notierten, was da so passierte. Schnell fand man dafür auch einen Begriff: „Anthropause“.

So sterben täglich auf unseren Straßen Millionen von Tieren. Während des Lockdowns im Frühjahr 2020 starben in den USA 34 Prozent weniger Wildtiere im Straßenverkehr. Bei Pumas in Kalifornien ging sie gar um fast 60 Prozent runter, verglichen mit der Zeit kurz vor dem Lockdown. Diese Phase, schätzen Forscher, dürfte mehr als 10 Millionen Wirbeltiere in den USA vor dem Tod auf der Straße bewahrt haben.

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„Der Spiegel“ schrieb vorige Woche über das Phänomen und interviewte den Biologen Christian Rutz. Dabei gab es am Anfang erstmal einen Disclaimer, damit ja keiner auf den Gedanken kommen kann, Tierforscher kümmerten sich nur um Tiere: „Wir verwenden Daten, die von winzig kleinen Minisendern mit GPS-Funktion erzeugt wurden und die Wissenschaftler auf der ganzen Welt, nichts ahnend, was kommen würde, noch vor der Pandemie an Wildtieren angebracht haben. Wir werten diese umfangreichen Datensätze jetzt aus. Wir sind durch wirklich tragische Umstände an diese bedeutende Forschungsmöglichkeit gekommen und sind uns des menschlichen Leids, dass die Pandemie verursacht hat, bewusst.“

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Bemerkenswert ist, dass es keineswegs nur positive Entwicklungen gab. Viele Tierarten haben sich längst mit den Menschen arrangiert, und sich zum Beispiel auf weggeworfene Lebensmittel und andere Dinge angewiesen. „Mancherorts werden Wildtiere aber auch im Rahmen traditioneller oder religiöser Praktiken gefüttert, etwa Schwarzmilane in Indien.“ Das fiel nun plötzlich weg. In Schwarzafrika, aber auch in Schottland haben Wilderei und illegale Verfolgung zugenommen.

Gute Frage: Was aber schadet mehr? Infrastruktur und Gebäude, oder die Menschen selbst?

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Auch auf dem Meer änderte sich in erstaunlicher Schnelle alles Mögliche. Fehlten die Schiffe, sangen die Wale leiser.

Die „Neue Zürcher Zeitung“ berichtete neulich darüber wie es Walen ergeht, die ím Norden von Alaska zum ersten Mal in Jahrzehnten nicht durch Whale-Watching belästigt weden. Immerhin gibt es pro Jahr über 10 Millionen Menschen, die einmal echte Wale in freier Natur angucken wollen. Über zwei Milliarden Dollar beträgt der Umsatz der Tourismus-Industrie in diesem Sektor.

Drei Forscher schrieben kürzlich in der Fachzeitschrift „Frontiers in Marine Science“, dass die starke Abnahme des Lärmpegels das Verhalten der Wale verändert habe. Vor allem für neugeborene Wale bedeutete die Pandemie einen unbeschwerten Start ins Leben.

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Nein!!! Wirklich nichts zu Julian Reichelt.

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Es gibt gute Gründe, der Aktion „Alles auf den Tisch“ skeptisch gegenüberzustehen. Die Pauschalität und Grobheit der Vorwürfe gegen diese große Gruppe von Schauspielern und Filmschaffenden macht allerdings nicht minder skeptisch. Warum diese Grobheit? Warum diese offene Abneigung, an manchen Stellen sogar regelrechter Hass? Und warum diese vollkommen über das Ziel hinausschießende, in vielen Fällen ganz offenkundig fehlgeleitete politische Kritik, die alle, die bei „#allesaufdentisch“ mitmachen, sofort zu Querdenkern, verkappten Neonazis und ähnlichem erklärt?

Dies ist, ich habe es in anderen Zusammenhängen schon geschrieben, am Ende wieder nur ein Zeichen für eine ziemlich gestörte Öffentlichkeit, für Demokratiedefizite und für eine fehlende Streitkultur in der Bundesrepublik Deutschland. Und für den „twitterblasenbasierten Reflexjournalismus“, den die Philosophin  Svenja Flaßpöhler bereits im Frühjahr bei den dümmlichen Reaktion der breiten Öffentlichkeit auf #allesdichtmachen konstatiert hat.

Warum diese Vorwürfe auch aus anderen Gründen zu kurz greifen, erklärt jetzt recht gut ein Artikel in der „Berliner Zeitung“, der leider – Verschwörung: wie viele differenzierte Artikel über Corona-Maßnahmenkritiker – hinter der Bezahlschranke versteckt wurde. Der Text erzählt gerade uns Biodeutschen etwas über Deutschland, was wir oft verdrängen, nicht gerne hören, und besonders während der Corona-Monate aus unserem Bewusstsein weggewischt haben: Deutschland hat ein Problem mit der Freiheit, mit freiheitlichem Denken und Toleranz, und mit einem Bewusstsein für die Grundrechte.

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In der Gruppe, heißt es in dem Text von Michael Maier, „engagieren sich viele Geflüchtete oder deren Nachfahren. Sie erkennen in manchen Entwicklungen Parallelen zu ihren früheren Ländern – und warnen vor der Preisgabe von Grundrechten“.

„Der größte Schock für uns war, als wir festgestellt haben: Es gibt immer weniger Freiräume und kaum noch Debatten: Alle hatten Angst. […] Wenn der Staat den Bürgern nicht vertraut, verlieren auch die Bürger das Vertrauen in den Staat“, erzählt die aus Armenien stammende Jeana Paraschiva. Die aus einer iranischen Familie stammende, in Marburg geborene Schauspielerin Sanam Afrashteh bekam in „dem linken, grünen Milieu“, dem sie sich selbst zugehörig fühlt, mehrfach zu hören, wenn sie sich ein bisschen kritisch über Corona-Maßnahmen äußerte: „Pass auf, du bist im Fahrwasser der AfD.“

Ihr iranischer Hintergrund macht Afrashteh besonders hellhörig, wenn sich in Deutschland Grenzen verschieben. Menschen mit Migrationshintergrund spürten die Veränderungen besonders, sagt sie. Man spüre heute wieder, dass Minderheiten diskriminiert würden, ohne dass es die Mehrheitsgesellschaft besonders stört.

Auch die Münchnerin Shirin Soraya, deren Vater Iraner ist, sagt in dem Text, natürlich könne man Diktaturen nicht mit dem Westen vergleichen. Doch habe sich das Alltagsleben in Deutschland stark verändert: „Plötzlich muss ich für alles, was ich tue, Vorkehrungen treffen. Daran möchte ich mich nicht gewöhnen.“

Der aus Syrien stammende Neil Malik Abdullah erkennt in der Art, wie in Deutschland mit den Corona-Maßnahmen umgegangen wird, religiöse Formen. Auch wir hatten an dieser Stelle vor einem guten Jahr genau das geschrieben: „Corona als Religion“.

„Ich bin religiös erzogen worden. In der Religion gibt es immer einen Gott, der dich richtet. Es gibt keine plausible Erklärung, es ist einfach so.“ Bei den Corona-Maßnahmen stört ihn genau diese Ähnlichkeit zu religiösen Denk- und Gehorsamsstrukturen. Er habe sich umfassend informiert und befolge sinnvolle Maßnahmen. „Aber ich will nicht, dass mir gesagt wird: Wenn du dies oder jenes tust oder nicht tust, wird Corona dich richten.“

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Eine interessante Differenz: Im Print heißt der Titel des Textes „Deutschland, deine Freiheit. In der Aktion „Alles auf den Tisch“ engagieren sich viele Geflüchtete oder deren Nachfahren. Sie erkennen in manchen Entwicklungen Parallelen zu ihren früheren Ländern – und warnen vor der Preisgabe von Grundrechten.“

Im Netz lautet er: „Grundrechte: ,Niemand von uns ist hergekommen, um Untertan zu werden‘ Migrantinnen und Migranten beobachten, wie die Pandemie Deutschland verändert. Sie warnen vor dem Verlust von Freiheit und Offenheit.“

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Wie gesagt: Nichts zu Julian Reichelt, dem am Montag rausgeworfenen Chefredakteur der „Bild“-Zeitung. Zu seinem Chef, den Vorstandsvorsitzenden von Axel Springer, Matthias Döpfner, allerdings schon.

Zum einen hier erstmal der Link zu jenem „New York Times“-Artikel, der am Wochenende das Springer-Beben ausgelöst hat.

Zum zweiten, und um gleich alle zu beruhigen, die fürchten, dass wir jetzt naiv geworden sein könnten, die persönliche Zusatzbemerkung, dass jetzt bitte niemand glauben sollte, der „New York Times“ ginge es irgendwie um Grundrechte, Gunst- und Vorteilserweise, gar um #metoo. Warum ist ihnen vor allem geht, ist, den Springer-Verlag zu diffamieren und zu diskreditieren, der zu einem harten Konkurrenten auf dem US-amerikanischen Markt geworden ist. Das muss einer Substanz der Vorwürfe und an der Korrektheit des Urteils der „New York Times“ allerdings nicht ändern.

Zum dritten finde ich sollten alle mal darüber nachdenken, ob jetzt wirklich Reichelt der große Schurke im Spiel ist, bloß weil er gern mit Untergebenen einvernehmlichen Sex hat, und dafür mit Karriereversprechen bezahlt, oder ob es nicht viel problematischer ist, wenn ein Matthias Döpfner schreibt und es wohl wirklich ernst meint, die Bundesrepublik sei ein „neuer DDR-Obrigkeitsstaat“, und Reichelt „halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt. Fast alle anderen sind zu Propaganda-Assistenten geworden.“

Hm.

Axel Springer dürfte sich mal wieder im Grab umdrehen.

Jetzt kämpft Döpfner ganz vorne in der ersten Reihe für einen „Kulturwandel“ in der „Bild“.

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Das Blödeste an solchen Äußerungen ist allerdings, dass mit ihnen nun wieder auch jede berechtigte und ernsthafte, freiheitliche Kritik an der Corona-Politik und den sogenannten Schutzmaßnahmen unserer Regierungen diskreditiert wird und allzu leicht in bestimmte Ecken abgeschoben werden kann.

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Letzte Woche war Elke Heidenreich zu Gast bei „Markus Lanz“. Danach gab es einen riesengroßen Shitstorm. Denn Elke Heidenreich hatte dort einige Dinge über „Political Correctness“, Gendersprache und  das Gutmenschentum der Deutschen formuliert, die nicht allen in den Kram passten. Zu dieser Debatte habe ich an anderer Stelle geschrieben was ich für nötig halte.

Der allerbeste Kommentar stammt allerdings von dem Philosophen Philipp Hübl, der im Deutschlandfunk aus meiner Sicht sehr ausgewogen und angenehm kühl urteilte, und erklärte, warum man sich,  wenn man wirklich etwas gegen Rassismus tun möchte, vielleicht lieber mehr mit den Rechtsextremisten beschäftigen sollte,  als mit einer Progressiven wie Elke Heidenreich, selbst wenn einem nicht alles gefällt, was sie sagt.

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Viel bemerkenswerter an der öffentlichen Reaktion war aber, dass sich alle nur auf Heidenreichs angeblichen Rassismus kaprizierten und auf das, war sie angeblich nicht sagen darf, als 80-jährige weiße Frau, und wann sie am besten gleich die Klappe halten sollte.

So gut wie niemand schreibt hingegen über das, was Elke Heidenreich in der gleichen Sendung ein paar Minuten zuvor über die CSU und die CDU gesagt hat.

Auch hier könnte man ja mal zitieren:

„Ich sehe überhaupt kein Programm. Es geht nur um Machterhalt, und sie reden von ,modernen Konservatismus‘. Was soll das denn sein? Was ist denn moderner Konservatismus? Seid doch konservativ, ist ja okay. Was ist denn das plötzlich für ein Modernisierungswahn? Und trotzdem kommen bei diesem Modernisierungswahn die ganzen alten Köpfe wieder. Soll es Röttgen bringen? Soll es Merz bringen? Soll es Philipp Amthor bringen? Ist das eure neue Jugend? Ich kann es gar nicht verstehen, was in dieser Partei im Moment eigentlich passiert. Philipp Amthor ist jetzt schon älter als ich, und ich bin 80.“

Gerade auch die Person Söder und die Rolle der CSU im Unionswahlkampf bringt Heidenreich mit selten zu lesender Präzision auf den Punkt:

„Söder, dieser ruchlose Mensch, der so intrigant gehandelt hat. Wie kann eine Partei daran immer noch festhalten, wie will sie wieder Fuß fassen, wenn solche Leute immer noch das Sagen haben? Das strotzt nur so vor Intrigen und Bösartigkeit, was da passiert ist, und ich habe mal eine ganz einfache Frage: Ist es denn nicht möglich, dass die CDU sich von dieser CSU trennt? Was hat dieses Bayern eigentlich für ein Gewicht? Das geht mir schon lange auf den Keks, dass die CSU die ganze Politik der CDU bestimmt. Muss das sein?“

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Am Montag vor zehn Jahren ist Friedrich Kittler gestorben. „Viel zu früh“, das ist in seinem Fall keine Phrase. Kittler war ein Philosoph und Mediendenker, der in seiner schrägen, gut begründeten, einmaligen Form unglaublich anregend war, und dessen verborgener Einfluß auf eine ganze Generation von Mediendenkern und Autoren ein ganzes Buch füllen könnte.

Man kann jedem raten, sich zum Beispiel mal eine von recht vielen digitalisierten Vorlesungen Kittlers anzuhören, um einen Hauch seines Charisma zu spüren.

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Zur Zeit findet in Frankfurt endlich wieder eine Buchmesse statt. Zwar mit großen Einschränkungen, aber immerhin. Und wie normal alles ist, zeigt sich auch daran, dass schon wieder die üblichen Debatten über Teilnehmer und hier besonders über rechte Verlage geführt werden, verbunden mit den recht vorhersehbaren Boykotten und Boykottaufrufen einzelner. Mir scheint das schon deshalb sinnlos und fehlgeleitet, weil man dadurch überhaupt erst die Aufmerksamkeit für die rechtextremen Verlage schafft, für deren Programm sich ansonsten kaum jemand interessieren würde, und die so winzig sind, dass selbst viele Rechtsextreme, vor allem aber ihre schlechter vernetzten Sympathisanten von ihnen noch nie gehört haben.

In Deutschlandfunk Kultur erklärt dazu jetzt Buchmessen-Chef Juergen Boos geduldig, warum die Messen niemanden ausschließen kann, und warum das auch nicht sinnvoll ist. Einer der Grundpfeiler der Messe sei die Meinungsfreiheit. „Wir können niemanden ausschließen, können hier keine Zensur ausüben.“ Die Gesamtheit der Teilnehmer würde das legale Meinungsspektrum repräsentieren, sagt Boos: „Das ist die bundesdeutsche Wirklichkeit. Die Buchmesse ist ein Spiegel unserer Gesellschaft.“

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Leser müssen nicht einfach gut informiert, sie müssen erzogen werden. Wer das nicht wahrhaben will, dem empfehle ich dringend Wes Andersons Film „The French Dispatch“, eine wunderbare Hommage an den klassischen Journalismus in Zeiten seines Untergangs, und eine Erinnerung an Zeiten, als man die Welt dem Publikum noch entdeckte und beschrieb, nicht bewertete und zensierte – und kämpferische Nostalgie gegen das Verschwinden der analogen Welt.

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