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Heute sind wir alle Demokraten!
*Gegen den Lockdown des Denkens, Voodoo-Gesundheitspolitik: Apokalyptiker &
Integrierte – Gedanken in der Pandemie 80. Von Rüdiger Suchsland*
/„Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen
der Schrecken.“
/Heiner Müller, 1979
Alle reden über den Lockdown. Wir auch. Aber nicht nur.
Trotzdem, da wir ja ein demokratischer, so meinungsfreudiger wie
meinungsneugieriger, pluralistischer Blog sind, und uns neben den Jubelhymnen
und Freudentränen auch gleich schon wieder Meckermails erreichen, erlaube ich
mir, Euch, lieben Lesern, zum Auftakt gleich ein paar Fragen zu stellen: Was
denkt ihr über den Lockdown? Gibt es etwas, wovor ihr Euch besonders fürchtet,
was Euch besonders nervt? Oder umgekehrt: Worauf ihr Euch womöglich freut –
außer dass die Infektionszahlen vielleicht sinken, und das alles wahrscheinlich
dem Klima gut tut?
Was ist überhaupt vom Lockdown zu halten? Ist er wirklich nötig? Sind sich
wenigstens Virologen und Epidemologen einig? Und wie sähe eine mögliche
Gegenstrategie nach Euer Meinung aus?
Das sind Fragen, die wir jeder für sich selbst, aber vielleicht auch alle
gemeinsam beantworten müssen. Ihr könnt mir Eure Gedanken unter
suchsland_r@web.de gerne zumailen – Vertraulichkeit und Anonymität sichere ich
gerne zu, genauso, dass alles in meine Gedanken hier einfließen wird.
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Es gibt auch einen Lockdown des Denkens. Das meinen nicht nur wir, sondern unter
anderem Boris Palmer, immer noch Mitglied der „Grünen“ und Oberbürgermeister von
Tübingen. In einem heute erschienenen Essay für die „Welt“
https://www.welt.de/debatte/plus219024364/Boris-Palmer-Schluss-mit-dem-Lockdown-im-Denken.html
übernimmt er die Ansichten führender Virologen, nach denen wir „mit dem Virus
leben“ müssen – was immer das heißt.
Seiner Meinung nach müssen wir die neuen Corona-Maßnahmen nicht akzeptieren,
sondern sollten mit den modernsten Waffen gegen die Pandemie vorgehen.
Palmer empfiehlt, sich am Beispiel Taiwan und Südkorea zu orientieren: „Taiwan
ermittelt für jeden Infizierten rund 30 Kontaktpersonen, die in strenge
Quarantäne geschickt werden. Bei uns ermitteln die Gesundheitsämter mit ihrer
Zettelwirtschaft etwa drei Kontaktpersonen, und das meistens, wenn das Virus
schon weitergegeben wurde. Taiwan hat dieses Jahr 340.000 Menschen in Quarantäne
geschickt und damit ein normales Leben mit Wirtschaftswachstum für 23 Millionen
Bürger gesichert. Südkorea ist ähnlich konsequent und erfolgreich.
Genutzt werden in beiden Staaten (sprechen wir es ganz offen an) Instrumente des
Überwachungsstaates. Quarantäne wird durch GPS-Verfolgung kontrolliert. Für die
Kontaktermittlung sind Handydaten genauso offensiv im Einsatz wie die von
Kreditkarten. Die deutsche Corona-App schützt im scharfen Kontrast dazu zwar
unsere Daten, aber nicht vor dem Virus.“
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Und weiter: „Das sind nur die zwei offensichtlichsten Alternativen, die in der
Debatte ausgeblendet werden. Schwedens Weg könnte sich schon in wenigen Wochen
als der bessere erwiesen haben, falls die kontrollierte Ausbreitung im Sommer
dem Land den Lockdown und den Kollaps des Gesundheitssystems im Winter erspart.
In Afrika scheint Corona geradezu auszutrocknen. Das Phänomen nehmen wir kaum
zur Kenntnis, obwohl es wie Schweden, Taiwan oder Südkorea Fragen für unsere
Strategie aufwirft.“
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Bei uns dagegen werden in bester Tradition des Obrigkeitsstaates – die die
deutsche Gesellschaft eben nie ganz abgeworfen hat – Debatten verhindert,
Kritiker in soziale und politische Abseits gestellt, alternative Strategien nur
als Verunsicherung wahrgenommen und daher von auch von den sehr an Sicherheit
interessierten öffentlichen Medien und viel gelesenen Zeitungen oft nicht zur
Kenntnis genommen oder sogar – Vorsicht Verschwörungstheorie – bewusst
totgeschwiegen.
Vor allem die Gouvernanten-Tante „Zeit“ ist im Augenblick Angela Merkels beste
Assistentin. Darüber ein andermal mehr.
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Zur Ideologie dieser Tage gehört, dass man bei 75 Prozent aller Infektionen mit
Corona einfach nicht weiß, wo sie stattfinden. Man weiß aber, dass 25 Prozent
aller Fälle vor allem in Privatwohnungen, auf Reisen, und auf der Arbeit
stattfinden, und jedenfalls nicht in Kinos und Gastronomiebetrieben. Daraus
schließt die Regierung nun, dass die 75 Prozent Unbekannte vermutlich im Kinos,
Theatern, Museen und Gastronomiebetrieben stattfinden, außerdem im Schwimmbad
und auf Sportplätzen. Darum macht sie genau diese zu.
Ideologisch daran ist zum einen, dass die Regierung ihr Nichtwissen einfach
nicht eingestehen möchte. Zum zweiten, dass das Einzige was an dieser belegten
und unbestrittenen Zahlen-Zusammenstellung sicher ist, kaum zum Thema gemacht
wird: Die Tatsache nämlich, dass die Regierung nach Aussage der Kanzlerin in 75
Prozent der Fälle einfach gar keine Ahnung hat, wo eine Infektion stattfindet.
Und dass sie sich mit der Schließung der Kulturstätten, Sportstätten und
sogenannten Freizeiteinrichtungen (wie Bordellen) komplett auf Vermutungen
verlässt – beziehungsweise dort schließt, wo sie den geringsten Widerstand
befürchtet. Das ist nichts anderes als eine Voodoo-Gesundheitspolitik.
Sie wird scheitern: medizinisch wie politisch.
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Das Ergebnis können wir alle jetzt praktisch erfahren. Ich wage vorauszusagen,
dass 1. der Lockdown nicht am 30. November beendet sein wird, dass 2. die
Schulen noch vor Weihnachten auch geschlossen werden.
Ein bemerkenswertes Interview dazu heute im Deutschlandfunk
https://www.deutschlandfunk.de/schulen-in-der-coronakrise-wechselunterricht-ist.694.de.html?dram:article_id=486821:
Marlis Tepe von der Lehrergewerkschaft GEW (das steht nicht für „Gewerkschaft
für Wechselunterricht“), bestätigte hier alle Klischees über faule Lehrer. Es
ist schon bezeichnend, dass es Funktionäre der Lehrergewerkschaften sind, wie
der GEW, die die ähnlich wie die Regierenden vor allem darüber reden, was alles
nicht geht. Sie haben partout keinen Möglichkeitssinn, sie haben einen Angstsinn
und Bedenkensinn. Die Lehrer betonen immer, was alles nicht funktionieren kann
und warum dies und jenes nicht möglich ist. Sie scheinen nicht an die
Gesellschaft zu denken, nicht über ihren Horizont hinaus zu denken. Denn die
Einschränkungen in den Schulen haben auch ihren Preis und zwar einen schweren.
Ich meine jetzt gar nicht die Tatsache, dass dann die Eltern zu Hause bleiben
müssen und nicht arbeiten können, sondern den Preis in den Hirnen der Schüler
und in ihren Seelen.
Ein hartes Interview aber ein gutes führte die DLF-Redakteuren Sandra Schulz.
Allerdings möchte ich sehr gerne mal eine ähnliche Härte und ähnliche Arroganz
und ähnliche Lust am Unterbrechen hören, wenn das nächste Mal ein Vertreter der
Regierung wieder die neuesten Pandemie-Maßnahmen begründet.
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Jetzt wagt Boris Palmer in Tübingen einen eigenen Weg
https://www.tuebingen.de/28331.html – und ein spannendes Experiment, dem man
allen Erfolg wünscht: „Tübingen hat sich entschieden, Virus-Screenings auf
Kosten der Stadtkasse durchzuführen und hat bisher jeden Einbruch des Virus in
ein Heim verhindern können. Getrennte Einkaufszeiten, eigene Angebote für den
ÖPNV, kostenlose Ausgabe medizinischer Masken – für den besonderen Schutz der
Risikogruppe gibt es zahlreiche Konzepte, doch fast nichts davon wird bei uns
umgesetzt. Und wieder liegt dies an einem Lockdown im Denken. Weil die
Risikogruppe weitgehend identisch ist mit den Senioren, wird jede
Differenzierung nach Risiko als Altersdiskriminierung abgekanzelt.“
Palmers „Tübinger Appell“ bedeutet: FFP2-Masken kostenlos für alle Senioren.
Sichere Einkaufszeit für alle Senioren am Vormittag. Details hier
https://www.n-tv.de/politik/Palmer-will-Fokus-auf-die-Senioren-legen-article22139556.html
und hier
https://www.fr.de/politik/corona-coronavirus-tuebingen-oberbuergermeister-boris-palmer-gruene-bus-taxi-einkaufen-schweden-90087524.html
und hier https://www.gea.de/neckar-alb/kreis-tuebingen_artikel-t.
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Aber das wichtigste Thema ist zunächst einmal die US-Wahl. Ausnahmsweise stimmt
es hier wahrscheinlich, dass die Amerikaner die Wahl haben zwischen Gut und
Böse. Zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen der Demokratie.
Der US-Korrespondent des Deutschlandfunks meinte zum Beispiel vor kurzem
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/10/31/vor_der_us_wahl_donald_trumps_aussenpolitik_gespraech_dlf_20201031_1331_6dc1c729.mp3,
dass wenn Trump noch mal gewinnen würde, die die Frage aufwerfen würde, „ob die
USA überhaupt noch eine Demokratie bleiben, oder ob Donald Trump seinen
autokratischen Impulsen derart freien Lauf lässt, das er dieses politische
System aus den Angeln hebt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass den
europäischen Beobachtern gar nicht so recht klar ist wie gefährdet die
amerikanische Demokratie unter Donald Trump tatsächlich ist, denn seine erste
Amtszeit war ein einziger Angriff auf das System der checks and balances.“
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Amerika ist Traum- und Projektionsmaschine. Unvergessen ist der erste
Disney-Film (für mich „Schneewittchen“ im Autokino Hoechst), die erste „Micky
Maus“, die Hemingway- und Fitzgerald-Lektüre als Jugendlicher, die frühe
Faszination, die sich mit ablehnender Skepsis gepaart hat. Der Abscheu gegenüber
der aggressiven Politik, vor allem nach Ende des Kalten Krieges, der Paranoia im
Gefolge von 9/11, der noch größer dadurch wird, dass unsere europäischen
Regierungen das alles kleinlaut mittragen.
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Ein tolles Angebot machen die Kollegen des Verleihs Grand-Film. Sie schreiben
treffend: „mit Spannung und auch etwas Furcht blicken wir und die ganze Welt in
Richtung USA, wo morgen die Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. (…) Als
Kommentar zu den Wahlen in den USA – wie immer sie auch ausgehen werden – haben
wir uns dazu entschlossen, Roberto Minervinis Dokumentarfilm „What You Gonna Do
when the World’s on Fire?“ bereits morgen zur „Wahlnacht“ als Video on demand zu
veröffentlichen. Beim Kinostart Ende Juli wurde diese eindrückliche
Dokumentation von der Presse gefeiert und in zahlreichen Kinos gezeigt. Es
standen für die nächsten Wochen noch weitere Kinotermine an, die aber vorerst
durch den erneuten Lockdown ausfallen müssen.
Dieser Film ist nicht nur ein Kommentar oder ein Debattenbeitrag, er ist ein
Kunstwerk des dokumentarischen Kinos, in wunderbarem Schwarzweiß gedreht und
bestechend durch die unmittelbare Nähe zu seinen Protagonist*innen.
Der Film ist als Video on Demand ab morgen (Dienstag, 3. November 2020) um 20
Uhr zum Preis von 4,99 Euro hier abrufbar https://vimeo.com/ondemand/wygdwtwof
(Der Link wird auch erst dann aktiviert wird). Am Freitag erscheint er außerdem
bei Absolut Medien als DVD.
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Amerika ist nicht nur Mythos, es ist die Chiffre des schlechten Ganzen im
inzwischen global gewordenen Kapitalismus.
Was man dazu lesen kann? Zum Beispiel Heiner Müller. „Der amerikanische
Leviathan“ heißt ein Buch, das gerade bei Suhrkamp erschienen ist und Müllers
Äußerungen zu Amerika, dem Kontinent der Kultur, dem Kino und der Politik,
zusammenfasst.
Außerdem kluge Analysen in den „Blättern für deutsche und internationale
Politik“ https://www.blaetter.de/. Und nicht weniger kluge Gedanken über den
„Failed State“ USA https://www.konkret-magazin.de/in „Konkret“.
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Auch von mir gibt es zwei Texte zum Thema: Bereits jetzt steht auf Telepolis
mein Text, warum ich optimistisch bin, und glaube, dass Biden morgen die Wahl
gewinnen wird
https://www.heise.de/tp/features/Warum-Joe-Biden-gewinnen-wird-4944678.html.
Und auf Artechock kommt später ein Text darüber wie das US-Kino den Trumpismus
vorhersagte. Viel Spaß in der Wahlnacht!
Bis Mittwoch!
Euer Crew United Team
Crew United - Lutz und Zenglein GbR
Fraunhoferstr. 6, 80469 München
Tel: +49 89 20244030